Der lange Weg aus dem Leder

Freudenberg ist erfolgreich durch Wandel. Immer wieder hat das Unternehmen Marktchancen rational analysiert und sich von Bekanntem und Liebgewonnenem getrennt. Eine große Ausnahme gibt es jedoch: der eher emotionale Umgang mit dem Ursprungsgeschäft Leder. 

 

Einst eine Gerberei in Weinheim, heute ein globaler Technologiekonzern mit breiter Produktpalette. Freudenberg hat sich oft verändert. Das heißt: sich immer wieder anpassen, neu aufstellen, den Wandel als Chance verstehen. Hört sich also so an, als walte bei Freudenberg vor allem die Vernunft. Immer? Nein, nicht immer. Schließlich wird ein Unternehmen von Menschen geführt. Und die agieren zuweilen auch anders: weniger rational, mehr emotional. Auch deshalb war es für Freudenberg ein hartes Ringen um das Ursprungsgeschäft Leder – von den späten 1960er-Jahren bis zum Ende im Jahr 2002.

Zahlen lügen nicht – sind aber auch nicht alles

Beginnen wir mit ein paar Faken: In der Zeit von 1969 bis 1986 macht die Ledersparte von Freudenberg insgesamt einen Verlust von 131 Millionen D-Mark. Ganz extrem war es im Jahr 1973: Da belief sich der Verlust der Ledersparte auf rund 33 Mio. D-Mark, bei einen Konzerngewinn von rund 51 Mio. D-Mark. Insgesamt nahm der Anteil von Leder am Freudenberg-Umsatz im Laufe der Zeit massiv ab.

Aus rein betriebswirtschaftlicher Sicht also eine eindeutige Sache: Ein früherer Ausstieg aus dem Ledergeschäft wäre eine vernünftige Entscheidung gewesen. Das bestätige auch eine unternehmensinterne Untersuchung im Jahr 1986 zu Rentabilität des Lederbereiches. Demnach sei eine „Weiterführung unter wirtschaftlichen Aspekten“ nicht mehr möglich. Trotzdem hat es noch bis 2002 gedauert, bis die Ära Leder bei Freudenberg nach 153 Jahren zu Ende ging. Klar ist auch: Bei keinem anderen Produkt hätte es so ein langes Zögern gegeben. Aber es handelte sich schließlich nicht um irgendein Produkt, sondern um Leder, also den Ursprung, den Nukleus, aus dem alles weitere entstanden ist.

Der Blick zurück hilft

Welche immense Rolle Leder für das Unternehmen und die Familie Freudenberg spielte, zeigt der Blick zurück: Gegründet im Jahr 1849 als Gerberbei liegt der volle Fokus jahrzehntelang rein auf der Lederherstellung. Um es flapsig auszudrücken: Leder, und sonst nichts. Über Generationen hinweg lernen die Nachkommen von Firmengründer Carl Johann Freudenberg und späteren Unternehmenslenker das Gerberhandwerk von der Pike auf. Es geht darum, Leder zu verstehen. Daraus ergeben sich eine große Nähe und emotionale Verpflichtung diesem einen Produkt gegenüber.  

 

Höchste Qualität

Die Lederfertigung bestand aus etwa 75 Produktionsschritten, die einzeln optimiert wurden, um so qualitativ hochwertiges Leder herzustellen. Dieser damals entwickelte Qualitätsanspruch gehört noch heute zum Selbstverständnis von Freudenberg.

Erst die Weltwirtschaftskrise 1929 leitete die Diversifizierung ein, unter anderem wird der Simmerring entwickelt. Trotzdem war Freudenberg auch 1945 noch hauptsächlich eine Gerberei: Zwei Drittel des Umsatzes fielen damals auf die Ledersparten. Bei Freudenberg dominierte also auch 100 Jahre nach der Gründung das Leder.

Massive Marktveränderungen

Auf dem Ledermarkt in Deutschland vollzogen sich derweil in den 1960er-Jahren massive strukturelle Änderungen. Das Natur-Leder bekam Konkurrenz von einer Vielzahl von Kunstlederprodukten. Wie massiv diese Änderungen sein würden, war der Freudenberg-Geschäftsführung durchaus bewusst. So wurde der Verdrängungswettbewerb durch Substitutionsprodukte von Hans Erich Freudenberg, Mitglied der Unternehmensleitung von 1949 bis 1976, schon 1967 als „disruptiver Faktor für das Ledergeschäft“ beschrieben. 

Spannend war nun, wie Freudenberg auf die Strukturkrise der deutschen Lederindustrie reagierte. Zum einen in – aus heutiger Sicht – bester Freudenberg-Manier: Die Marktchancen wurden erkannt, und innerhalb von wenigen Jahren avancierte das Unternehmen zum größten Kunstlederproduzenten Europas – übrigens ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg des Unternehmens vom traditionellen Lederhersteller zum Technologieunternehmen. 

Strategie: Schrumpfen statt Schließen

Zum anderen aber auch ganz und gar untypisch für den Wandlungskünstler Freudenberg: Vereinfacht gesagt lautete die Strategie für den defizitären Bereich Naturleder über Jahrzehnte hinweg „Schrumpfen statt Schließen“. Immer wieder wurden zwar Kapazitäten angepasst und Kosten gesenkt, was mit einer Verkleinerung der Sparte einherging. Zu einer vollständigen Beendigung des Traditionsgeschäfts konnte sich die Freudenberg-Unternehmensleitung, die ab 1970 auch für Nicht-Familienmitglieder geöffnet wurde, jedoch lange nicht durchringen. 

Wobei das Thema spätestens ab 1986 intensiv in dem Gremium diskutiert wurde. In jenem Jahr war sogar schon ein Schreiben an die Gesellschafter verfasst worden, das über die Schließung informieren sollte. Diese Maßnahme wurde dann aber doch nicht durchgeführt und das Schreiben daher auch nicht verschickt. 

Späte Erfolge

Ende der 1980er-Jahre konzentrierte sich Freudenberg auf die Marktnische „hochwertige Leder für Luxussegmente“ und belieferte Hersteller hochwertiger Schuhe und Lederwaren in allen Kontinenten. Wenn der wirtschaftliche Erfolg auch nur von kurzer Dauer war, gab es immerhin sehr prominente Fans des Freudenberg-Produkts. So bestellte der damalige amerikanische Präsident George Bush Senior beim Freudenberg-Kunden Allen Edmonds Shoe Corporation im Jahr 1989 drei Paar Schuhe aus Freudenberg-Leder.

Liquidation im letzten Moment gestoppt

Noch eindrucksvoller schildert Rudolf Scharpff, von 1979 bis 1993 Mitglied der Unternehmensleitung und in dieser Zeit für das Ledergeschäft zuständig, die Zerrissenheit innerhalb der Freudenberg-Führung. Er sagte später: „ich war […] schon unterwegs es zu liquidieren, aber […] da hat Hermann [Freudenberg] angerufen, hat gesagt, wir machen das dann doch nicht […] Dann hat man das verschoben.“

Und für Hans Erich Freudenberg waren die Gründe für das lange Festhalten am Ledergeschäft „das Verantwortungsbewusstsein für die Arbeitsplätze und eine Bindung an Traditionen“. Ähnlich äußerte sich Reinhart Freudenberg, von 1972 bis 1997 Mitglied der Unternehmensleitung. Ihm, einer der prägenden Persönlichkeiten der Freudenberg-Geschichte, gehört in dieser Sache das letzte Wort: „Rückblickend gesehen hätte man ein wahnsinniges Geld gespart, wenn man das sehr viel schneller zugemacht hätte, aber das war emotional nicht drin.“

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